Letzte Tage in Jerusalem - ein klassisches Drama

Natürlich hat es sich nicht so abgespielt, wie wir es im Neuen Testament lesen. Aber im Verständnis derer, die für Ihresgleichen schreiben und die Geschichte Jesu weitergeben wollen, hätte es sich genau so abspielen können. Und so verdichtet sich in der Lesart der vier Evangelisten das gesamte Wirken Jesu in jener einen Woche zwischen Palmsonntag und Ostersonntag. Wie in

einem klassischen Drama läuft die Geschichte Jesu dem unausweichlichen Ende entgegen:

Da ist zuerst der triumphale Einzug in Jerusalem: Dort, wo religiöse und weltliche Macht unmittelbar aufeinander bezogen sind, soll das zum Abschluss kommen, was gut drei Jahre zuvor in der Provinz Galiläa begonnen hat. Mit Jubelrufen werden diejenigen empfangen, die zusammen für eine bessere, gerechtere Welt im Sinne Gottes werben. Kurz darauf wendet sich das Blatt: Die Jubelrufe verstummen, erste kritische Töne werden geäußert, Unmut, Neid, Misstrauen machen sich bei den weltlichen und religiösen Machthabern breit. Und so werden heimliche Allianzen geschmiedet und Pläne gefasst um diesen lästigen Propheten verstummen zu lassen.

Ein letztes Mahl mit seinen Getreuen. So, als ahnte Jesus schon das kommende Ende. Wahrscheinlich nichts Besonderes: Brot, Wein und gute Gespräche - ganz ohne die spätere, dogmatische Deutung von Leib und Blut. Nur noch einmal mit jenen Weggefährten zusammen essen, trinken und das Leben spüren.

Dann der Verrat, die Gefangennahme, das Verhör.

Immer turbulenter geht es auf der Bühne zu - noch scheint das Ende nicht sicher. Was wird aus dem Helden: Bleibt es bei einer Anklage wegen Blasphemie? Oder wird aus einer innerreligiösen Streitigkeit ein Politikum? Wer wird verantwortlich gemacht? Die römischen Besatzer? Die religiösen Anführer? Das jüdische Volk?

Am Ende dann die Verurteilung. Innerhalb kurzer Zeit  hat sich das Blatt gewendet. Statt begeistertem Jubel nun der Ruf nach Strafe, anstelle berauschter Zuschauer jetzt tobender Mob. Der Schlussakt ist eingeläutet: Das drohende Ende wird Wirklichkeit - die mögliche Begnadigung wird abgelehnt - die Strafe vollzogen.

Das Kreuz wird aufgerichtet - der Vorhang fällt.

Das Drama ist zu seinem Ende gekommen.

Der Vorhang ist geschlossen, das Stück zum Ende gekommen. Nur verhalten klatscht das Publikum zum Applaus, denn zu offensichtlich war der Ablauf des ganzen Stücks: Ein strahlender Held mit lauteren Absichten betrat zusammen  mit einer kleinen Gruppe von Idealisten die Bühne. Unter ihnen ein enttäuschter Anhänger, der am Ende zum Verräter wird. Ringsum eine Gruppe von Neidern, die argwöhnisch das Treiben der Gruppe beäugt, weil sie um eigene Vorteile bangt. Dazu gesellt sich ein hinterhältiger Plan, in dessen Zentrum ein schwacher Herrscher steht, der am Ende zum Erfüllungsgehilfen diverser Interessensgruppen wird.

So kommt es, wie man schon zu Beginn des Dramas ahnte, zum tragischen Scheitern und zum Tod des Helden. Nichts Außergewöhnliches also – nichts worüber es sich zu erzählen lohnt. Ein Drama, wie es sie zu hunderten seit der Antike gibt

Schon will sich das Publikum erheben. Da  hebt sich ruckelnd der Vorhang aufs Neue. Staunend nehmen die Zuschauer wahr, das Stück geht plötzlich weiter: „Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Eine Gestalt war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee.

Und der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten. Und siehe, er wird vor euch hingehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen."

Erstaunen macht sich beim Publikum breit. Für die Meisten ist dieses Theater zu modern, zu gewagt, geradezu skandalös. Wenn der Vorhang einmal gefallen ist und  die Zuschauer applaudieren, ist normalerweise das Stück zu Ende. Hier jedoch unterläuft das Drama die Regeln des Gewohnten und geht einfach weiter. Staunen, Entsetzen und Fragen stellen sich ein – sollte dieser Held die übliche Tragik durchbrechen? Sollte mit dem Fallen des Vorhangs vielleicht nur ein vorläufiges Ende markiert werden?

Kopfschüttelnd beurteilen die Besucher die plötzliche Wendung: „Nein - das ist zu viel des Guten. Das kennt man nicht, dass tote Helden wieder die Bühne betreten." Und so macht sich das Gros des Publikums auf den Heimweg. Nur einige Neugierige bleiben zurück, sie wollen wissen, ob und wie sich dieses Stück weiter entwickelt. Und sie stellen mit Erstaunen fest, dass der Held die Bühne erneut betritt, das Stück neuen Schwung aufnimmt und lange nicht zum Ende kommt.

Ralf Herbertz

 

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